Mehrsprachigkeit in der Kita-Praxis: Wie Sie den Spracherwerb täglich begleiten
Elisa Morel
Mehrsprachigkeit ist bei Kita-Kindern in Deutschland weit verbreitet und somit wahrscheinlich auch in Ihrer Einrichtung Alltag. Das mag Fachkräfte vor Herausforderungen stellen, denn in unserem Bildungssystem liegt der Fokus auf dem Erwerb der deutschen Sprache.
© ADOBE Stock
In diesem Beitrag erfahren Sie, wie Sie die Sprachentwicklung von mehrsprachigen Kindern unterstützen und mit welchen Tipps Ihnen ein wertschätzender Umgang gelingt. So viel sei verraten: Die Methoden und Ansätze unterscheiden sich kaum von denen, die Sie schon immer anwenden, um Kinder mit Deutsch als Muttersprache im Spracherwerb zu fördern.
Inhalt
1. Was bedeutet Mehrsprachigkeit?
1.1. Erstsprachen vor dem Kita-Besuch
1.2. Mehrsprachigkeit in der Kita
1.3. Chancen und Herausforderungen von Mehrsprachigkeit
2. Wie gelingt der (mehrsprachige) Spracherwerb?
3. 3 praktische Tipps für den Spracherwerb mehrsprachiger Kinder
Tipp: Vielleicht haben Sie sogar die Möglichkeit, in einer Kita zu hospitieren, die bereits ein tolles Konzept zur Förderung mehrsprachiger Kinder umsetzt. Sammeln Sie vor Ort Ideen und Eindrücke und überlegen Sie, welche Ideen Sie so oder ähnlich auch in Ihrer Kita umsetzen können.
Wie gelingt der (mehrsprachige) Spracherwerb?
Eine Sprache zu lernen, ist immer eine Herausforderung, die dem einen Kind schneller, dem anderen langsamer gelingt. Der individuelle Erfolg und die Lerngeschwindigkeit sind von vielen verschiedenen Faktoren abhängig, z. B. von der Förderung und Sprachkompetenz (auch in der Muttersprache) im Elternhaus, dem Kontakt im Alltag mit den Sprachen oder dem Alter des Kindes.
Mehrsprachige Kinder lernen dabei nicht langsamer oder unkoordinierter als einsprachige, und die Forschung ist sich auch einig, dass Kinder dazu in der Lage sind, zwei und mehr Sprachen (gleichzeitig) zu lernen. Auch eine mehrsprachige Umgebung führt nicht zu Nachteilen.
Wichtig ist, dass Sie wie immer jedes Kind beim Spracherwerb unterstützen und der sprachlichen Vielfalt positiv und offen gegenübertreten. Fühlen die Kinder sich wohl und wertgeschätzt, lernen sie besser und schneller.
Wenn Sie Kinder in Ihrer Einrichtung haben, die am ersten Tag kein einziges Wort Deutsch sprechen und auch selten überhaupt eines gehört haben, wird es ein paar Monate dauern, bis die Kleinen anfangen, Deutsch zu verstehen. Und noch ein bisschen länger, bis sie es auch sprechen. Das ist normal und völlig in Ordnung, denn es ginge uns nicht anders, wenn wir uns plötzlich in einer Umgebung wiederfänden, in der in einer uns fremden Sprache kommuniziert wird, deren Regeln wir auch vorher nicht lernen konnten.
Um zu vermeiden, dass die Kinder sich aufgrund dieser Tatsache unwohl fühlen, zurückziehen, nicht in die Kita wollen usw., ist es essenziell, ihnen ein Stück weit entgegenzukommen und gleichzeitig Wertschätzung zu vermitteln.
Es gibt viele Materialien in anderen Sprachen als Deutsch. Sie können gemeinsam Kinderbücher lesen, Lieder hören und singen, aber auch Rezepte aus den Heimatländern der Kinder kochen und Feste feiern. Dafür ist es nicht nötig, dass Sie selbst Experte in mehreren Ihnen wahrscheinlich bisher fremden Sprachen werden. Seien Sie kreativ:
- Fragen Sie die Familien der Kinder nach Liedern, Reimen, Fingerspielen in ihrer Muttersprache, die den Kindern vertraut sind. Vielleicht können die Kleinen die Worte bereits selbst sagen. Ansonsten bitten Sie die Eltern, Ihnen eine Audio zu schicken, oder recherchieren Sie online. So können Sie die Reime anschließend in den Kita-Alltag integrieren.
- Bitten Sie die Eltern, Kinderbücher in der Heimatsprache einzulesen und die Bücher samt Aufnahmen der Kita zur Verfügung zu stellen. Vielleicht kommt ein Vater, eine Schwester oder ein Onkel ja auch an einem Vormittag oder zu einem Fest mit und liest vor Ort live?
- Bringen Sie möglichst viel über den Alltag der Kinder in Erfahrung. Spielt z. B. Kochen eine große Rolle in der Familie, ist das Kind daran beteiligt oder kommt mit zum Einkaufen? Dann kennt es wahrscheinlich in seiner Erstsprache viele Zutaten. Nutzen Sie die Chance, um ins Gespräch zu kommen: Lassen Sie die Kinder die Zutaten in ihrer Sprache benennen, wiederholen und merken Sie sich die Worte und verraten Sie den Kindern die deutschen Namen. Vielleicht machen Sie hinterher gemeinsam ein Quiz daraus?
- Denken Sie einfach statt um die Ecke: Die ersten Hundert Worte von Kindern beziehen sich immer auf ihre unmittelbare Lebensrealität (ja, nein, Hund/Wauwau, Mama, Papa, aua, müde, Hunger, Durst, lecker, toll/super/schön/hurra/juchu etc.). Somit ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass Kinder mit egal welcher Erstsprache diese und/oder ähnliche Wörter kennen. Darauf können Sie aufbauen, z. B. mithilfe von Spielsachen, Bildkarten von Tieren, bei einem Spaziergang usw.
Nutzen Sie außerdem die Gelegenheit, um Feiertage, Feste und Bräuche verschiedener Kulturen im Kindergarten erlebbar zu machen und allen Kindern interkulturelle Kompetenz zu vermitteln. Auch an dieser Stelle werden Ihnen ältere Familienmitglieder der Kinder gerne unter die Arme greifen. Feiern Sie zusammen, singen, kochen und essen Sie, und laden Sie dafür vielleicht die Familien ein. So erfahren auch diese Wertschätzung und werden Sie umso lieber in Ihrem Erziehungsauftrag unterstützen – und wahrscheinlich auch bei Planung, Vorbereitung und Umsetzung solcher Festlichkeiten.
3 praktische Tipps für den Spracherwerb mehrsprachiger Kinder
Die folgenden drei Praxistipps erleichtern Ihnen die Förderung Ihrer mehrsprachigen Kinder.
1. Zeigen Sie Wertschätzung für die (Mutter-)Sprachen der Kinder
Zwei Sprachen zu sprechen, ist besser als eine. Je mehr Sprachen jemand beherrscht, umso weiter wird auch sein Horizont, denn hinter und in jeder Sprache stecken Kultur, Geschichte, Identität und Landeskunde. Zudem erweitert sich der eigene Wortschatz durch Fremdsprachen in dreierlei Hinsicht:
- im herkömmlichen Sinne, weil man mehr Vokabeln kennt
- bezogen auf den Erwerb weiterer Fremdsprachen oder Fremdwörter in der eigenen Sprache (vgl. Latein und Griechisch als Ursprung oder Französisch als Brückensprache für romanische Sprachen)
- durch die Kenntnis von Redewendungen oder Wörtern, die es nicht in allen Sprachen gibt – z. B., um präziser Gefühle auszudrücken oder überhaupt ein passendes Wort für seine Empfindungen zu haben
Um welche Sprachen es sich dabei handelt, ist irrelevant. Nur weil in unserem Bildungssystem bisher nur wenige Fremdsprachen gelehrt und leider auch nicht alle wertgeschätzt werden, bedeutet das nicht, dass es sinn- oder wertvoller ist, Englisch und Spanisch zu sprechen statt Paschto und Romanes.
Seit Jahrzehnten reden wir alle von der Globalisierung und wie sehr sie unseren Alltag prägt. Aber in unseren Köpfen ist vielleicht noch nicht angekommen, dass das auch bedeuten kann, in einer mehrsprachigen Gesellschaft zu leben und zu lernen.
Noch immer hat der Erwerb der deutschen Sprache in unserem Bildungssystem höchste Relevanz – oft wird von Eltern und Kindern erwartet, auch privat ihre Muttersprache aufzugeben und nur noch auf Deutsch zu kommunizieren, um den Spracherwerb voranzutreiben. Das ist der falsche Weg. Integrieren Sie stattdessen verschiedene Sprachen in den Kita-Alltag, z. B. durch eine mehrsprachige Leseecke, mehrsprachige Plakate oder Lieder.
2. Beziehen Sie die Eltern in Ihre Arbeit ein
Sprache ist Heimat, Kultur, Identität und vieles mehr. Je nachdem, in welcher Region Deutschlands Sie arbeiten, haben Sie ganz sicher oder vielleicht auch Kinder in Ihrer Einrichtung, die an ihrem ersten Kita-Tag kein Wort Deutsch sprechen und deren Eltern der deutschen Sprache ebenfalls nicht mächtig sind.
Kommunikation ist natürlich trotzdem unerlässlich. Überlegen Sie daher, wie Sie etwaige Sprachbarrieren am besten überwinden. Es gibt viele Ansätze, z. B.:
- mehrsprachige Fachkräfte oder auch Kinder
- Apps und Tools wie Übersetzungssoftware (online auch als kostenlose Versionen nutzbar)
- Sensibilisierung für Leichte Sprache
- Visualisierungen wie Zeichnungen oder Icons
- Zeigen statt Reden, z. B. durch Gesten oder auch einen Hausbesuch
- gemeinsames Erleben bei Festen, Projekten, Ausflügen
Auch wenn es natürlich einfacher wäre, mit den Familienmitgliedern auf Deutsch zu kommunizieren, behalten Sie im Hinterkopf, dass Sie es ja auch jeden Tag schaffen, sich mit Ihren Kleinen zu verständigen – unabhängig davon, ob sie der deutschen oder überhaupt einer Sprache mächtig sind. Dann schaffen Sie das sicher auch an anderer Stelle.
Je eher Sie mit den Familien der Kinder bezüglich deren Entwicklung und Förderung an einem Strang ziehen, umso harmonischer wird der Kita-Alltag, umso glücklicher sind die Kinder und umso bessere Chancen auf einen gelungenen, erfolgreichen Einstieg in unser Bildungssystem haben sie.
Es ist klar, dass das nicht immer klappt. Versuchen Sie einfach wie immer Ihr Bestes. Den meisten Eltern liegt das Wohl ihrer Kinder am Herzen – und dazu gehört eben auch, ihnen den Weg durch eine entspannte Kita- und Schulzeit zu ebnen.
3. Schaffen Sie Gesprächsanlässe
Sprache übt man am effektivsten, wenn man sie anwendet. Das muss nicht unbedingt das Sprechen sein, denn wir lernen ja auch durchs Zuhören. Somit gibt es viele verschiedene Möglichkeiten, Kinder im Spracherwerb zu unterstützen. Und das wissen Sie bereits, denn Sie fördern auch einsprachige Kinder täglich. Die Methoden und Ansätze unterscheiden sich nicht – Hauptsache, die Kinder sind bei der Sache, interessiert und neugierig. Ob sie (zuerst) eher beobachten und zuhören, ihre Gedanken in ihrer Muttersprache oder durch Gesten einbringen, ist egal.
Folglich haben Sie u. a. diese Aktivitäten zur Auswahl:
- Philosophieren
- Geschichten weiter- oder umschreiben
- Rollenspiele, Theater
- Erzählen, z. B. im Morgenkreis, mit dem Kamishibai oder den Storytelling Bean Bags
- Austausch über verschiedene Sprachen und Kulturen
- freies Spiel
- Vorlesen
- Rätseln
- Reimen, Singen, Tanzen
Lernspiel – beschreiben & verstehen
Kasperletheater
Kasperle-Handpuppen-Set
Lesen Sie mehr:
- kostenlose bilinguale Bilderbücher in verschiedenen Sprachen samt Audioversionen:
https://www.bilingual-picturebooks.org/de/home
- Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Material aus dem Bundesprogramm zu Sprach-Kitas:
https://www.fruehe-chancen.de/themen/sprachliche-bildung/bundesprogramm-sprach-kitas-weil-sprache-der-schluessel-zur-welt-ist-alt/material-aus-dem-bundesprogramm
- De Houwer, Annick, Pascall, Mareen: Unsere Kinder und ihre Sprachen: Hürden, Bedürfnisse und Chancen – Ein Vorschlag zur frühen mehrsprachigkeitsoffenen Bildung, 11.01.2022:
https://www.kindergartenpaedagogik.de/fachartikel/bildungsbereiche-erziehungsfelder/sprache-fremdsprachen-literacy-kommunikation/unsere-kinder-und-ihre-sprachen-huerden-beduerfnisse-und-chancen/
- KINDgerecht – Magazin für frühkindliche Bildung: Sag mal … Sprachbildung und Mehrsprachigkeit in Kitas, Ausgabe 01/2022:
https://www.froebel-gruppe.de/fileadmin/user/Dokumente/KINDgerecht_Magazin/220317_KINDgerecht_Inhalt_WEB_01.pdf
- Kühn, Susanne: Frühe Mehrsprachigkeit im Kita-Alltag begleiten (Download-Link):
https://www.kita-fachtexte.de/de/fachtexte-finden/fruehe-mehrsprachigkeit-im-kita-alltag-begleiten
- Niedersächsisches Institut für frühkindliche Bildung und Entwicklung: Förderung von Mehrsprachigkeit: Praxisvorschläge, Arbeitshilfen und Materialien (umfangreiche Liste mit Links zu Materialien der mehrsprachigen Förderung in Kita und Schule in der PDF unter „Dokumente“):
https://www.nifbe.de/component/themensammlung?view=item&id=553:foerderung-von-mehrsprachigkeit-praxisvorschlaege-arbeitshilfen-und-materialien
- Internetpräsenz des Projekts „Sprach-Kitas“ mit vielen Materialien zum Download:
https://sprach-kitas.plattform-spi.de/goto.php?target=cat_65029&client_id=inno
- Verband binationaler Familien und Partnerschaften: Materialien zur mehrsprachigen Erziehung:
https://www.verband-binationaler.de/themen/mehrsprachigkeit
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