Im Waldkindergarten: So fördert Naturerfahrung die kindliche Entwicklung
Christine Hagemann
Immer mehr Eltern möchten, dass ihre Kinder im engen Kontakt zur Natur aufwachsen. Den ganzen Tag draußen spielen, bei jedem Wetter – der Waldkindergarten ist äußerst gefragt
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Eine Kita ohne Wände, mitten in der Natur? Geht das überhaupt? Sogar sehr gut! Was auf den ersten Blick ein wenig aus der Zeit gefallen erscheint, weil es nach schwärmerischer Naturromantik klingt, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als absolut zeitgemäßes, zukunftweisendes Konzept. Was ist das Besondere an der Waldpädagogik? Entdecken Sie im Folgenden, was den Waldkindergarten auszeichnet und wie Sie die Vorteile der Waldpädagogik in Ihrer Kita nutzen.
Inhalt
1. Was ist anders im Waldkindergarten?
1.1 Geschichte der Waldkindergärten
1.2 Formen des Waldkindergartens
1.2.1 Der klassische Waldkindergarten
1.2.2 Der integrierte Waldkindergarten
1.2.3 Regelmäßige Waldtage & Projektwochen
2. So sieht der Tag im Waldkindergarten aus
2.1 Welche Ausrüstung benötigt ein Waldkind?
2.2 Wie sollte der Waldplatz ausgestattet sein?
3. Welches Konzept hat die Waldpädagogik?
3.1 Der Wald als Erzieher
3.2 Der positive Einfluss der Natur
Was ist anders im Waldkindergarten?
Fünf Tage in der Woche gehts in den Wald zum gemeinsamen Spielen, Toben, Bauen und Entdecken.
Eigentlich ist der Waldkindergarten ein ganz normaler Kindergarten. Nur dass die Kinder ganzjährig ihren Kita-Alltag draußen in der Natur verbringen. Und das bei jedem Wetter.
Für den Fall, dass extreme Witterungsbedingungen einen längeren Aufenthalt im Freien verhindern, gibt es eine geschützte Unterkunft, oft ist das ein Bauwagen. Was es jedoch im Waldkindergarten nicht gibt, ist vorgefertigtes Spielzeug. Gespielt wird mit dem, was sich in Wald und Wiese findet, vom Baumstamm bis zu Moos und Blütenblättern – ein schier unerschöpfliches Reservoir.
Selbstverständlich sind damit auch Lernziele verbunden. Jeder Waldkindergarten setzt hier eigene Schwerpunkte. Im Vordergrund stehen die Förderung der Motorik sowie die Entwicklung von Ich-Stärke und sozialen Fähigkeiten. Die Kinder erfahren die Stille und erkunden jeden Tag etwas Neues. Dabei geht es um ganzheitliche Bildung, das bedeutet Lernen mit allen Sinnen und mit ganzem Körpereinsatz.
Formen des Waldkindergartens
1. Der klassische Waldkindergarten:
Die Kindergruppe verbringt jeden Tag in der Natur, in einem bestimmten Gebiet. Dies liegt meistens im Wald, doch es gibt auch den Insel-Kindergarten in den Dünen oder den Naturkindergarten in einer Parkanlage. Die Gruppe besteht aus 15 bis 20 Kindern ab 3 Jahren, wobei immer mehr Waldkindergärten auch Unter-3-Jährige aufnehmen. Bei Unwetter oder winterlichen Temperaturen unter minus fünf Grad nutzen Waldkindergärten auch geheizte Ausweichräume.
2. Der integrierte Waldkindergarten:
Es gibt verschiedene Mischformen von Wald- und Regelkindergarten. Häufig bietet die Kita eine offene Waldgruppe an, an der die Kinder wahlweise teilnehmen. Oder es besteht eine feste Waldgruppe, die wöchentlich wechselt. Möglich ist auch, dass die Kinder von der Kita aus für einige Stunden in den Wald gehen. In der übrigen Zeit findet die Betreuung im Regelkindergarten statt.
3. Regelmäßige Waldtage & Projektwochen:
Dieses Modell integriert die Waldpädagogik in den Regelkindergarten. Viele Kitas bieten einmal wöchentlich einen Waldtag an. Hierfür geben die Waldkindergärten wichtige Impulse. Etwas mehr Planung erfordern Waldprojekte, die über einen längeren Zeitraum laufen. Wichtig hierbei ist die rechtzeitige Beteiligung der Eltern. Oftmals ergibt sich daraus sogar eine ständige Waldgruppe.
So sieht der Tag im Waldkindergarten aus
Am Morgen gehen die Kinder zusammen mit den Erziehenden zum Waldplatz. Der Bollerwagen ist mit Materialien für den Waldtag beladen, wie zum Beispiel Thermokissen, Seile, Werkzeuge, Becherlupen, Bestimmungsbücher, Utensilien zum Malen und Basteln. Der Tag beginnt mit der gemeinsamen Begrüßung im Morgenkreis.
Der Wald bietet jede Menge Anregungen für das Freispiel. Daneben gibt es Angebote für Aktivitäten aus allen Bildungsbereichen, ob die Kinder den Wald erkunden, Lager bauen, Fundstücke sammeln, Lieder singen oder Laubbilder legen. Nach dem gemeinsamen Mittagessen wird eine Ruhezeit eingelegt. Im Sommer sind Hängematten ideal zum Schlafen. Oder die Kinder liegen auf einer Isomatte und lauschen einer Geschichte.
Spielspaß unter freiem Himmel und intensive Naturerfahrungen sensibilisieren Kinder für den Lebensraum Wald. Die wichtigste Regel, bevor es wieder nach Hause geht, heißt daher: Wir halten die Natur sauber. Alles Mitgebrachte wird am Schluss auch wieder mitgenommen.
Welche Ausrüstung benötigt ein Waldkind?
Die wichtigste Voraussetzung ist eine bequeme und wetterfeste Kleidung, angepasst an Witterung und Jahreszeit. Zum Waldkindergarten-Start sollten die Eltern eine detaillierte Kleidungs- und Ausrüstungsempfehlung als Orientierung erhalten.
Diese Dinge benötigt jedes Waldkind:
- wetterfeste Kleidung und Schuhe
- Rucksack mit Regenschutz
- Frühstücksbox, Trinkflasche
- Box mit Besteck für das Mittagessen
- bei Bedarf Wickelutensilien, Schlafsack für Mittagsschlaf
Wie sollte der Waldplatz ausgestattet sein?
Eine Holzhütte oder ein umfunktionierter Bauwagen ist die Basisstation im Wald. Die Unterkunft sollte kindgemäß ausgestattet sein, sie dient als Materiallager und als Rückzugsort, in der kalten Jahreszeit auch zum Mittagessen.
Diese Dinge gehören zur Ausstattung:
- Eigentumskisten mit Kleidung zum Wechseln
- Aufbewahrungsboxen für Materialien
- Erste-Hilfe-Rucksack und Hygienebedarf
- ein Bollerwagen, ein Tisch und Bänke
- eine Komposttoilette
Welches Konzept hat die Waldpädagogik?
Das Erleben von Bewegung, Körper- und Sinneserfahrung gehört zu den Grundbedürfnissen von Kindern. Es ist zugleich Handlungsmotiv und Grundlage geistiger Entwicklung. Dies belegt die neurobiologische Forschung. Auch die Entwicklungspsychologie betont den Zusammenhang motorisch-sinnlicher und kognitiver Prozesse. Gerade in den ersten Lebensjahren brauchen Kinder vielfältige sensomotorische Erfahrungen, um die geistige Entwicklung zu stimulieren.
Der Wald als Erzieher
Der Wald ist die perfekte Umgebung für sensomotorische Erfahrungen, speziell wenn es um die körpernahen Sinne wie Fühlen, Riechen, Bewegungs- und Tiefensinn geht. Raumerfahrung hat mit Sehen, Hören, Riechen, Tasten und dem Gleichgewichtssinn zu tun. Werden die verschiedenen Sinneswahrnehmungen verknüpft, spricht man von Synästhesie. Darauf basieren neuere elementarpädagogische Ansätze wie die Offene Arbeit, etwa im Reggio-Werkstattkonzept.
In der Reggio-Pädagogik gilt der Raum als dritter Erzieher. Jüngere Kinder erleben den Raum emotional und sammeln prägende Eindrücke, indem sie ihn aktiv erkunden. Erfahrungen von Selbstwirksamkeit sind für die kindliche Entwicklung äußerst wichtig. Die Waldpädagogik sieht die Natur als primäre pädagogische Kraft. Ihr Wert als prägender Entwicklungsraum und Vorbild ist für Kinder von größter Bedeutung.
Der positive Einfluss der Natur
Wer sich gerne in der freien Natur aufhält, wird nicht bezweifeln, dass auch unseren Kindern mehr Natur guttut. Doch wie sieht es mit den kognitiven Bildungszielen aus? In der heutigen Zeit erwarten Eltern von der Kita gezielte Frühförderung, immer mit Blick auf die Schulfähigkeit ihrer Kinder. Der Waldkindergarten erscheint da wie ein idyllisches Gegenmodell. Aber stimmt das überhaupt?
Die gute Nachricht vorweg: Waldkindergärten bereiten Kinder optimal auf die Schule vor. Kinder, die einen Waldkindergarten besucht haben, arbeiten in der ersten Klasse besser im Unterricht mit. Im Schnitt sind sie eloquenter, zeigen besseres Sozialverhalten und sind fantasiereicher als ihre Mitschüler aus Regelkindergärten. Dies bestätigen mehrere Studien, wie auch der Kindheitsforscher Andreas Raith ausführt. Die folgenden Punkte fassen die Ergebnisse zusammen:
1. Wohlbefinden schaffen
Dass Naturnähe unser Wohlbefinden positiv beeinflussen kann, ist lange bekannt. So belegen Studien in Krankenhäusern, dass der Blick aus dem Fenster auf Grünanlagen oder Bäume sich messbar günstig auf Genesung und Wohlbefinden auswirkt. Das Gleiche gilt für die schulische Umgebung: Schon die Anwesenheit von Grünpflanzen im Klassenzimmer genügt, um das gesamte Klassenklima zu verbessern. In diesen Klassen gibt es weniger Disziplinprobleme und geringere Krankheitszeiten.
2. Selbstkompetenzen entwickeln
Kinder, die mit viel Natur aufwachsen, haben ein besseres Selbstwertgefühl. Sie zeigen starkes Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, treten entspannt auf, sind motiviert zu lernen und können gut soziale Beziehungen pflegen. Sie sind durchsetzungsfähig, ohne dabei aggressiv zu sein. Fachleute erklären diese Effekte mit dem freieren Spielverhalten und der damit verbundenen Möglichkeit, Risiken einzugehen und zu bewältigen. Die Natur vereint Widersprüchliches und kann allen Bedürfnissen gerecht werden.
Der Kontakt zur Natur verbessert die Kreativität. Vergleichende Tests zeigten, dass Kinder aus dem Waldkindergarten bessere Ergebnisse in Kreativität und Grobmotorik haben. In der Feinmotorik gab es keine Unterschiede. Bedeutsam ist, dass nur Kinder, die jeden Tag im Wald verbrachten, diese Effekte zeigten. Kinder aus Waldkindergärten wurden auch von ihren Lehrern als kreativer und fantasievoller eingestuft als Kinder, die einen Regelkindergarten besucht hatten.
3. Sprachkompetenzen fördern
Der Wald hat für Kinder einen hohen Aufforderungscharakter, sie treffen auf immer neue und unvorhersehbare Situationen. Diese anregungsreiche Umgebung erfordert komplexe sprachliche Ausdruckformen mit einem größeren Vokabular. Die Kinder versuchen, ihre Umgebung zu beschreiben und zu verstehen. So können gemeinsame Aktivitäten in der Natur die kindliche Sprachentwicklung nachhaltig fördern.
4. Sachkompetenzen entwickeln
Die Natur stimuliert Lernprozesse. Die Vielfalt der Umgebung, Steine, Beeren, Tannenzapfen, Käfer, Baumrinde, alles weckt Interesse und regt zu Fragen an. Solche Fragen bieten Erziehern ideale Möglichkeiten, um Lernprozesse, die von den Kindern ausgehen, aufzugreifen und zu vertiefen. Dadurch wird naturwissenschaftliches Verständnis angebahnt.
Kinder, die einen Waldkindergarten besucht haben, beteiligen sich in der ersten Klasse reger am Unterricht. Bei Tests erbrachten sie durchweg bessere Leistungen im Sachunterricht. Die etwas schlechteren Leistungen im Schreibunterricht haben sie schnell aufgeholt, sodass es in der zweiten und dritten Klasse beim Schreiben keine Unterschiede mehr gab.
5. Sozialkompetenzen ausbauen
Das Spielverhalten verändert sich in der Natur, es wird intensiver und einfallsreicher. Einmal verläuft es mit viel Toben und Geschrei, ein anderes Mal mucksmäuschenstill. Das Spielfeld kann ein Turnierplatz sein, eine Hexenküche oder der Weltraum. Alle Spiele haben differenzierte Rollen und einen komplexen Ablauf, den die Kinder selbst bestimmen.
Das freie Spiel fördert die Kooperations- und Kommunikationsfähigkeit. Die Kinder lernen, abwechselnd zu sprechen und sich gegenseitig zuzuhören. Das verbessert die Zusammenarbeit bei der Umsetzung ihrer Ideen. Erzieherinnen und Erzieher brauchen seltener wegen Streitereien einzugreifen.
6. Gesundheit stärken
Die Natur ist der ideale Bewegungsraum für Kinder. Auch wenn sie im Grünen nicht unbedingt aktiver sind, ermöglicht der Wald doch besonders differenzierte Bewegungsmuster. Alle Muskeln werden trainiert, was Übergewicht vorbeugt und positiv auf Fitness und Körpergefühl wirkt. Auch Studien in Grundschulen zeigen: Kinder mit viel Kontakt zur Natur sind weniger krank.
Tipp: Auch wenn Sie keinen Wald in der Nähe haben, können Sie mit Ihren Kindern im Park oder Kita-Garten auf Entdeckungstour gehen. In der Natur ist immer was los, zu jeder Jahreszeit. Ausgerüstet mit Lupe und Botanisiertrommel wird der Osterspaziergang für kleine Forscher zum spannenden Erlebnis. Und wer weiß, vielleicht überraschen sie sogar den Osterhasen.
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Potenzial für die Zukunft: Umweltbewusst leben
Das Prinzip von Bildung ist, dass mehr Wissen zu mehr Einsicht und somit zu besserem Handeln führt. Aber leider stimmt das nicht immer. Bei Umweltproblemen ist der Einfluss des Wissens auf unser Handeln sehr gering. Vielmehr motiviert die emotionale Einstellung uns dazu, umweltbewusst zu handeln. Dies beherzigt der Waldkindergarten, er sensibilisiert für ökologische Zusammenhänge.
Kinder, die mit Naturerfahrungen aufwachsen, entwickeln Naturverbundenheit. Nur wer ein positives Gefühl für die Natur hat, ist auch bereit, das eigene Handeln zu verändern. Die intensive Naturbegegnung im Waldkindergarten wirkt weit über das Kindesalter hinaus. Aus begeisterten Waldkindern werden umweltbewusste Erwachsene, die sich für nachhaltigen Naturschutz einsetzen.
Zum Weiterlesen:
Frank Francesco Birk: Der Waldkindergarten. Ein Konzept zur Prävention von Entwicklungsstörungen. In: Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, 26/3, 2020, S. 32 – 37.
Ingrid Miklitz: Der Waldkindergarten. Dimensionen eines pädagogischen Ansatzes. Berlin: Cornelsen Scriptor 2011.
Andreas Raith, Armin Lude: Startkapital Natur. Wie Naturerfahrung die kindliche Entwicklung fördert. München: oekom 2014.
Silvana Del Rosso: Waldkindergarten. Ein pädagogisches Konzept mit Zukunft? Hamburg: Diplomica 2010.
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